Quo Vadis Energievertrieb
Was Versorger jetzt tun müssenDie Marktdynamik im Energievertrieb hat im ersten Quartal deutlich an Fahrt aufgenommen. Der Vertrieb über Vergleichsportale hat wieder das Vorkrisenniveau erreicht. Der Preiswettbewerb nimmt entsprechend zu. Der aktuelle Durchschnittspreis für Strom bei Verivox liegt bei 34 ct/kWh, unterhalb der Preisbremse.1 Erste Anbieter bieten bereits sogar unterhalb von 30 ct/kWh an.
Umgekehrt haben rd. sechs Millionen Haushalte in der Strom-Grundversorgung zum Jahreswechsel eine Preiserhöhung erhalten; der bundesweite GV-Preis liegt dabei im Schnitt bei rd. 53 ct/kWh.2 Zudem beschäftigen sich Kund:innen intensiv mit ihren Energiekosten, denn das Interesse hieran liegt aufgrund von Krisen und Inflation weiter auf hohem Niveau.
Diese dynamische Marktentwicklung hat noch vor wenigen Monaten kaum jemand kommen sehen – selbst wenn diese im Rahmen von Szenarioplanungen von dem einen oder anderen Versorger vor der Weihnachtspause bereits antizipiert wurde.
Grund genug, sich einmal näher damit zu beschäftigen, was es vor dem Hintergrund dieser Entwicklung zu tun gilt – und zwar mit Blick auf die kommenden Monate als auch mittelfristig. Hierfür haben wir mit ausgewählten Top-Manager:innen der Energiebranche gesprochen und folgende Handlungsbedarfe und Kernimplikationen abgeleitet:
Fahren Sie, wo sinnvoll und möglich, Ihre Vertriebsaktivitäten wieder hoch
Die Beschaffungspreise für das Folgejahr haben sich zwischen Dezember 2022 und März 2023 halbiert.3 Hierdurch entsteht für Versorger die Möglichkeit, zusätzliche Mengen zu attraktiven Preisen zu beschaffen. Auf Verbraucherseite ist die Motivation für einen Anbieterwechsel entsprechend hoch. Zum Beispiel haben bereits im Dezember fast die Hälfte der Verbraucher:innen angegeben, einen Anbieterwechsel bei einem Preisvorteil ab 15 % anzustreben.4 Auch wenn der vertriebliche „Muskel“ bei dem Großteil der Versorger aufgrund der besonderen Marktdynamik der letzten Monate erschlafft ist – jetzt ist die Zeit, die Kanäle und Kampagnen wieder hochzufahren.
Reaktivieren Sie Ihre Maßnahmen zur Churn-Prävention
Durch krisenbedingte Insolvenzen und außerordentliche Kündigungen der Belieferung sind viele Kund:innen in den Grundversorgungstarif gerutscht. Die Zahl der grundversorgten Kund:innen sind bei manchen Versorgern um 10% gestiegen, teilweise sogar noch mehr. Gleichzeitig wurden gerade die Grundversorgungstarife zum Jahreswechsel deutlich angepasst; die Preisanpassung für diese rd. sechs Millionen Haushalte lag im Schnitt bei einer Erhöhung >60%.5 Die Churn-Quoten in der GV sind daher in den letzten Monaten bereits wieder angestiegen. Reaktivieren Sie daher Ihre Maßnahmen zur Churn-Prävention – speziell für diejenigen unter Ihren (neuen) grundversorgten Kund:innen, die mangels Alternative in Ihre Grundversorgung „gefallen“ sind. Für die Identifikation dieser churn-gefährdeten Neu-Kund:innen setzen Sie dabei am besten auf Data Analytics und Data Science.
Meistern Sie die Servicekrise
Das Kontaktaufkommen im Service wird weiter hoch bleiben, speziell in der Telefonie und im klassischen Schriftgut. Die Rückstände sind bei dem Großteil der Versorger weiterhin deutlich über dem Vorkrisen-Niveau. Obwohl mehr als Dreiviertel der Energieversorger neue digitale Anwendungsfälle zur Verbesserung des Kundenerlebnisses planen6 - also den Ausbau ihres digitalen Serviceangebots -, greifen Kund:innen aus verschiedenen Gründen immer noch zum Telefon oder anderen herkömmlichen Kontaktkanälen. Endabrechnungen und damit verbundene Nachzahlungen für höhere Preise im letzten Jahr kommen erst jetzt beim Endverbraucher an. Andere Kund:innen verstehen die Preisbremse oder ihre Abrechnung im Kontext der Preisbremsen nicht. Zudem nimmt die Geduld weiter ab. Während im letzten Jahr noch eine gewisse Nachsicht mit den Versorgern vorherrschte, wird der Blick der Kund:innen zunehmend kritisch und fordernd. Daher gilt: Lassen Sie Ihre Service-Situation nicht zum Churn-Treiber werden.
Verstetigen Sie die Flexibilität und Agilität Ihrer Organisation
Versorger und vor allem ihre Mitarbeiter:innen haben neben aller Belastung durch die Krisen der letzten Jahre, erst durch Covid, anschließend durch die Energiekrise, eine Vielzahl an neuen Fähigkeiten („Capabilities“) aufgebaut sowie an Flexibilität und Geschwindigkeit in der Umsetzung gewonnen.
Nutzen Sie die Flexibilität, Effizienz und neuen Fähigkeiten Ihrer krisenerprobten Organisation im Kontext der aktuellen Marktdynamik. Machen Sie nicht den Fehler, „in alte Muster“ zurückzufallen.
Neben diesen eher kurzfristig orientierten Maßnahmen ist es für Versorger genauso wichtig, nach vorne zu schauen, also auch die Perspektive über die aktuelle Marktdynamik hinaus zu berücksichtigen und konsequent zu verfolgen. Dies bedeutet konkret:
Forcieren Sie den Ausbau von integrierten EDL-Angeboten (Ökosystem-Ansatz)
Die Energiewende schreitet voran und wird politisch forciert. Regulatorische Incentivierung und Wandel im Nachhaltigkeitsbewusstsein der Kunden sorgen für Wachstum über alle Produktkategorien. Der jährliche Netto-Zubau von PV-Anlagen soll sich bis 2027 verdoppeln, um den EEG-Zielpfad zu erreichen.8 Der Absatz von Wärmepumpen in Deutschland ist zwischen 2022 und 2023 um 50% gestiegen.9 Der Bestand von Elektroautos und somit benötigte Ladekapazitäten werden ebenso signifikant steigen. Versorger können es sich nicht erlauben – auch nicht vor dem Hintergrund all der oben genannten Prioritäten und Handlungsbedarfe – diese Entwicklung zu verschlafen.
Partizipieren Sie an diesem Wachstum, indem Sie Kapazitäten in diesem Bereich ausbauen und Ihr Produktportfolio erweitern bzw. stärker integrieren. Startpunkt für einen nachhaltigen Wettbewerbsvorteil ist hier die erfolgreiche Verfolgung eines Ökosystem-Ansatzes – sei es, um komplexe Kundenbedarfe bspw. mit Blick auf die Wärme- und Mobilitätswende bedienen zu können; oder sei es, um knappe Handwerkerkapazitäten effizient und effektiv zu orchestrieren.
Pilotieren Sie die nächste Ära der Commodity-Produktwelt (bspw. dynamische Tarife)
Auch im Commodity-Bereich ändert sich die Produktlandschaft. Die Energieerzeugung wird flexibler und die Netznutzung und Tarife werden folgen. Das Interesse der Verbraucher an innovativen Tarifen wächst. 59% der Verbraucher können sich die Nutzung eines dynamischen Tarifs vorstellen.10 Tibber zum Beispiel konnte die Kundenanzahl von 2020 zu 2021 verdreifachen.11 Schaffen Sie daher die Voraussetzung für dynamische bzw. zeitvariable Tarife. Gleichzeitig gilt es, die internen Prozesse von der Beschaffung bis zur Tarifierung bzw. Preisanpassung deutlich zu flexibilisieren und zu beschleunigen, so dass Sie auch zukünftig in einem volatilen Marktumfeld zeitnah reagieren können.
Überprüfen Sie rigoros Ihre Vertriebsplanung für die kommenden Jahre
Der Großteil der Versorger wird bereits vor der Sommerpause in die ersten Planungsrunden für die kommenden Planungsperiode einsteigen. Nutzen Sie die Zeit, um hier nochmal grundsätzlich Ihre bisherigen Ansätze zu überprüfen – was aus den letzten Jahren fahren Sie weiter fort? Wie schauen Sie auf den Markt 2024, speziell sobald die Preisbremsen auslaufen? Welche Dynamik erwarten Sie für 2024 und darüber hinaus?
Angesichts der Entwicklungen der letzten Monate ist es für Versorger von immenser Bedeutung, sich mit der neuen Marktsituation aktiv auseinanderzusetzen, die richtigen Schlüsse zu ziehen und zügig zu handeln. Die vorgestellten Handlungsfelder bieten hierfür konkrete Ansatzpunkte – und zwar sowohl kurzfristig als auch mittelfristig. Dies alles mit dem Ziel, die eigene Position im Markt zu erhalten bzw. weiter zu stärken.
Autoren: Konstantin Schaller (Partner), Lukas Schwind (Senior Manager) und Benedikt Schuth (Consultant).
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1: Verivox
2: GetAG
3: Phelix Baseload Year Futures
4: Kreutzer
5: ZfK
6: BDEW
7: Kreutzer
8: Agora Energiewende
9: BDEW
10: Kreutzer
11: Handelsblatt